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Erfahrungsberichte

Bericht aus der HAZ 23.07.15

Auf dem langen Weg aus der Glücksspielsucht

Svenja Müller*** ist seit mehreren Jahren in Therapie – und leitet jetzt selbst eine Gesprächsgruppe

Von Gabi Stief
23.07.15 (c) haz.de 


Das erste Mal? Svenja Müller überlegt. War sie 13 oder 14 Jahre alt? Damals, als ihr Vater sie jeden Sonntag mit in die Kneipe schleppte, wo er sich die Biere hinter die Binde kippte und mit Bekannten Skat drosch. Seine Tochter stand am Spielautomaten, während sich andere Mädchen ihres Alters im Freibad vergnügten. Sie liebte das Daddeln, das ratternde Geräusch des Automaten, das sie ablenkte von der Langeweile und dem Frust.

„Ich komme aus einer Suchtfamilie“, sagt Svenja Müller. Sie hat diesen Satz schon oft wiederholt. Erst in den Therapiestunden, dann vor Gericht – und kürzlich in der Selbsthilfegruppe, die sie leitet. Sie will anderen spielsüchtigen Frauen helfen, indem sie von ihren Erfahrungen erzählt, zuhört und Tipps gibt, wie man die innere Leere füllt und der Wut begegnet. Vier Jahre ist sie jetzt „spielfrei“. Ist sie geheilt? „Die Sucht begleitet einen das ganze Leben“, sagt sie.

Ihr bisheriges Leben erinnert an einen schlechten Film, aus dem der Zuschauer nach zehn Minuten aussteigen möchte, weil er der Klischees überdrüssig ist. Svenja Müller ist mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen, weil sie den saufenden und prügelnden Vater nicht mehr ertragen konnte. Ihre Habseligkeiten passten in zwei Plastiktaschen. Außerdem war sie schwanger.

Mit 17 hat sie den Vater des Kindes geheiratet. Die Ehe hielt nicht lange. Es folgte eine zweite, in der sie zwei weitere Söhne zur Welt brachte. „Ich war beziehungsunfähig“, sagt sie. „Ich hatte kein Vertrauen und keine Vertrauten.“ Auch die neue Beziehung zerbrach. Sie blieb mit drei Kindern allein zurück, da war sie 32 Jahre alt.

Der Zorn und die Einsamkeit an den Wochenenden trieb sie in Spielhallen. Die erste, in die sie sich traute, war in Vahrenheide. Der Besuch wurde zur Gewohnheit. Sie sehnte sich nach dieser Ruhe, die sich einstellte, wenn sie vor dem Automaten stand. Trotz ihrer Spielsucht fehlte es der Familie nicht am Nötigsten; die Verantwortung für die Kinder rettete sie vor dem endgültigen Absturz.

Irgendwann schien es, als ginge es bergauf. Das Jobcenter verschaffte ihr eine Stelle als Sekretärin. Alles lief gut. Doch dann verliebte sie sich in einen Kollegen. Als er über finanzielle Probleme klagte, leitete sie Geld vom Firmenkonto um und beglich seine Schulden. Niemand bemerkte es. Also wiederholte sie die Aktion, einmal, mehrmals. Plötzlich hatte sie reichlich Geld, um zu spielen. Sie lernte die Hinterzimmer im Steintorviertel kennen, wo das illegale Glücksspiel floriert und gepokert wird. „Ich konnte nicht aufhören; und dafür hasste ich mich“, sagt sie. Als eine Kollegin merkte, dass mit den Konten etwas nicht stimmte, entschied sich Svenja Müller endlich, professionelle Hilfe zu suchen.

Drei Jahre lang war sie in Therapie. Noch heute nimmt sie regelmäßig an einem Gesprächskreis an der MHH teil. „Es ist ein langer, langer Weg.“ Frauen, sagt sie, falle es besonders schwer, sich die Sucht einzugestehen. Die Schamgrenze sei hoch. Spielsüchtige Männer verspürten Machtgefühle; sie wollen beherrschen und Bestätigung finden. Frauen versuchten dagegen, dem Gefühl der Ohnmacht zu entfliehen und sich frei zu fühlen. Neurologen haben festgestellt, dass ein erhöhter Dopamin-Ausstoß im Gehirn für ein Glücks-Hoch sorgt. Das Geld, der Gewinn sei nur Mittel zum Zweck, nicht das Ziel, sagt Svenja Müller.

Mit 55 Jahren hat sie gelernt, nicht im Spiel, sondern in vielen kleinen alltäglichen Momenten das Glück zu fühlen. Sie hat sich Rituale zugelegt, die helfen, wenn der Suchtdruck steigt. So genießt sie jetzt den Geruch einer Tasse Kaffee oder macht lange Radtouren. Da ihre Psyche gelitten hat, bekommt sie eine Erwerbsminderungsrente. Es ist wenig Geld, aber mehr als früher, als sie jeden Euro, der entbehrlich war, verzockt hat. Erst heute, sagt sie, könne sie mit ihren erwachsenen Söhnen und den Enkeln „Familie leben“.

Svenja Müller hat sogar Zukunftspläne gemacht. Sie will sich zur Suchtkrankenhelferin ausbilden lassen. Einziges Handicap: 2011 ist sie aufgrund der Veruntreuung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Seit einem Jahr ist das Urteil rechtskräftig. Seitdem muss sie jeden Tag mit dem Haftbefehl rechnen. Was wird sie tun, wenn es so weit ist? Sie hofft, als Freigängerin nicht alles aufgeben zu müssen, was sie gerade mit viel Kraft erreicht hat.


***(Name von der Redaktion geändert)

[Anm. der Red.: Svenja Müller leitet bei Step eine Selbsthilfegruppe zum Thema Glücksspielsucht.]

Zeitungsartikel aus der NP 11.3.14

Alles verzockt: Glücksspiel gegen die Einsamkeit

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Was ist eine typische Spielerkarriere?

Erfahrungsbericht einer Glücksspielsüchtigen

Was ist eine typische Spielerkarriere? Es gibt viele verschiedene! Um von niemand das Vertrauen zu verletzen, erzähle ich Ihnen meine Geschichte. Viele Ihrer Fragen werden dadurch beantwortet.

Alles fing, wie bei allen, ganz harmlos an. Ein Getränk in meiner Stammkneipe und fünf Mark in den Spielautomat, vielleicht habe ich ja Glück!!! Leider hatte ich dies auch. Am Anfang war alles noch reiner Spaß und ich habe oft gewonnen, und wenn nicht, habe ich einfach aufgehört.

Immer öfter steckte ich mein Geld in diese Kisten, zum Zeitvertreib. Ich merkte gar nicht, wie kurz die Abstände waren und wie die Summen, die ich investierte, immer höher wurden. In meiner Stammkneipe wurde ich schon groß angeguckt. Es war mir unangenehm, so kam ich in die Spielhalle. Ein Ort wo mich keiner schräg anguckte, etwas sagte, oder mich vom Spielen abhalten wollte. Alle waren nett. Alle wollten das Gleiche: IN RUHE SPIELEN!!!!
Manchen ging es um die Gesellschaft (endlich nicht mehr alleine), anderen ums Gewinnen (sich finanziell verbessern oder Verluste wieder zurück holen), nur wenige waren nur noch aus Spaß da (einfach nur mal so, einmal im Jahr).

Vier Jahre in diesen Hallen und für mich einen großen Berg Schulden, habe ich gebraucht um zu merken, dass ich ein Problem hatte!!! Ohne Spielen ging nichts mehr. In meinem Kopf drehte sich alles ums Spielen, jede Minute, die ich nicht spielen konnte, hat mich frustriert.
Tag und Nacht dachte ich nur noch an das eine: Spielen!!!

Morgens dachte ich darüber nach, wo ich Geld zum Spielen herbekomme, mittags hatte ich das gleiche Problem, weil ich das morgens beschaffte Geld schon verspielt hatte. Mit Lügen oder nichtigen Ausreden beschaffte ich mir finanziellen Nachschub. Viele Freunde habe ich in dieser Zeit verloren. Nicht nur durch meine Lügen. Ich hatte ja gar keine Zeit mehr für irgendjemand anderen. Meine Familie habe ich im Stich gelassen. Meine Kinder waren in dieser Zeit viel auf sich selbst gestellt. Auch wenn ich da war, waren meine Gedanken nur
noch beim Spielen. Schauspielen war angesagt. Wir Spieler sind sehr gute Schauspieler !! Eis essen gehen mit den Kindern, lachen, lustig sein, Spaß haben alles war nur gespielt.
Nachts traute ich mich nicht mehr einzuschlafen. Immer der gleiche Traum: <eine Serie an meiner Lieblingskiste >. Was aber gar nicht das Schlimmste war. Wenn ich erwachte, war ich enttäuscht, dass dies nicht die Realität war. Leider nur ein Traum. Depressionen stellten sich ein, ein Riesendruck lag auf meinen Schultern. Ich hatte das Gefühl ein schlechter Mensch zu sein, fand, dass alle ohne mich besser dran wären.

Etwa acht Jahre nach Spielbeginn, redete ich mit meiner Familie und sagte: „Ich will da raus, ich kann nicht mehr und mag nicht mehr!“ Mehrere Therapeuten suchte ich auf, jeder sagte mir, dass ich bei ihm falsch wäre. Das war 1999. Mit gelegentlichen Spielpausen suchte ich in den nächsten zwei Jahren weiter nach Hilfe oder versuchte es alleine – ohne Erfolg. Ich konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr essen. Wenn ich dann wirklich einmal etwas aß, bekam ich Bauchschmerzen.

Meine Kinder waren mittlerweile so groß, dass sie merkten wie schlecht es mir ging. Sie gingen in der Schule zu ihrem Schulpsychologen und erzählten ihm von mir. Er gab meinen Kindern die Unterlagen mit einer Telefonnummer aus Herford (Suchtberatungsstelle) mit. Von dort bekam ich die Nummer von „Spielfrei leben“. Drei Monate etwa brauchte ich noch, bis ich dort das erste Mal hin ging, mit wackelnden Beinen, als ein Häufchen Elend. Es war mir peinlich, ich fühlte mich unsicher. Am liebsten wäre ich weggelaufen.

In der ersten halben Stunde tranken wir Kaffee, alle waren lustig. Ich fühlte mich fehl am Platz, warum ging es den anderen so gut, nur mir nicht. Seit vier Jahren besuche ich jede Woche diese Gruppe und weiß, dass es jedem beim ersten Besuch so geht. Nach der Kaffeerunde geht es in den Gruppenraum, erst dort wird in einem geschlossenen Kreis über die Probleme gesprochen. Alles was dort gesagt wird bleibt auch da. Die Persönlichkeit eines jeden wird respektiert.

In den letzten Jahren hatte ich viele kleine Rückschläge. Mit den Erfahrungen und Tipps dieser Gruppe, Menschen mit dem gleichen Problem, habe ich es geschafft, schon zwei Jahre nicht mehr zu spielen.

Unsere Kinder wachsen mit Nintendo, Playstation und Computer auf. Es ist eine große Verantwortung, sie auf den richtigen Weg zu führen, sie aufzuklären, welche Gefahren da schlummern. Wenn wir nicht aufpassen, reicht es ihnen bald nicht mehr, das Spiel zu gewinnen, denn wenn sie 18 sind, können sie dafür Geld bekommen - oder auch ganz viel verlieren.

@ Spielfrei leben e.V. | Mail: info@spielfrei-leben.de | c/o Eckhard Graf | Tel.: 0511 - 7900193 | Berckhusenstraße 7 | 30625 Hannover